Author(s):
Graf, Friedrich Wilhelm
[English Version] . Die Ursprünge des analog zu »politische Theologie« gebildeten Begriffs liegen im dunkeln. Wahrscheinlich handelt es sich um einen Neologismus der »Sattelzeit« des späten 18. und frühen 19.Jh. K.G. Bretschneider diente der Begriff zur Analyse von Vermittlungszusammenhängen zw. rel.-konfessioneller Fraktionierung und polit. Parteienbildung. Johann Christian Karl Herbig erklärte in seinem »Wörterbuch der Sittenlehre« 1834: »Rel., polit., ist eine solche, deren letzter Zweck sich auf den Staat bezieht, und die daher auch immer mit dem Staate innig verbunden ist« (221). Die weitere Begriffsgesch. ist kaum erforscht. In den 20er Jahren des 20.Jh. begegnete polit. Rel. im Streit um Faschismus und autoritären Staat. Eine prominente Rolle gewann der Begriff in den Totalitarismus-Diskursen der späten 30er Jahre. Der polit. Philosoph und Staatswissenschaftler E. Voegelin deutete Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus 1938 als »Die polit. Religionen«, die das Kollektiv Klasse, Staat oder Rasse zum sinngebenden »ens realissimum« »divinisiert« hätten. Sakralisierte »Teilinhalte der Welt« seien jeweils für einen »Mythos der Erlösung« »vergötzt« worden. Polit. Rel. wollten die dem Christentum eigene und in den modernen Verfassungsstaaten institutionalisierte Differenz von Polit. und Rel. in eine neue, archaisierend regressive rel.-polit. Einheitskultur aufheben. Sie änderten die Legitimationsstruktur polit. Handelns: Die den Rechtsstaat konstituierende Bindung ans Recht werde ersetzt durch den Rekurs auf quasirel., zu »Letztwerten« hypostasierte ideologische Gehalte. In seiner kulturpessimistischen, von konservativ-kath. Wertorientierungen normierten Geschichtssicht kennzeichnete der aus der korporatistischen polit. Rechten Österreichs stammende Schüler Othmar Spanns die Durchsetzung polit. Rel. im 20.Jh. als eine Folge krisenhafter Dechristianisierung, die mit der Aufklärung begonnen habe. Ein Jahr nach Voegelin sprach der franz. liberale Intellektuelle Raymond Aron mit entgegengesetzter Zielsetzung von »religion politique« bzw. später auch »religion se´culie`re«. Der von Aufklärungstraditionen geprägte Aron gab seinem Konzept der »religion politique« eine dezidiert religionskrit. Zuspitzung, sah er im starken Gemeinschaftskultus der Religionen doch die Quelle einer Totalvergemeinschaftung des Menschen, die die freiheitsdienliche Unterscheidung von privater und öfftl. Sphäre zerstöre. – Seit dem Zusammenbruch der UdSSR und anderer kommunistischer Staatssysteme haben mit der Konjunktur vergleichender Totalitarismusforschung auch die Konzepte polit. Rel. neues Interesse gefunden. In Untersuchungen zu weltanschaulichem Programm, »impliziter Theol.« (Jan Assmann), Symbolwelten, Divinisierungsstrategien, »Sakraltransfer« (Marc Bloch), Ritualen, Weihehandlungen, Mysterienkulten, Zeitordnungen, Festkalendern, Totenkult und Memorialkulturen werden rel. Dimensionen der äußerst gewalttätigen antiliberalen Ordnungssysteme des 20.Jh. zu erhellen versucht. Analysiert werden »Hitlers Gott«, die häufige Beschwörung der Vorsehung in seinen Reden, der mystizistische Okkultismus in NS-Eliten, die teils chiliastischen, teils apokalyptischen Elemente der NS-Ideologie, die messianischen Führervisionen, der Personenkultus der Kommunisten (Beispiel: W. Lenins Grablegung und Aeternisierung durch demonstrative Zurschaustellung der einbalsamierten Leiche), die Sinnkonstruktionen des starken faschistischen Selbst, die massenliturgische Ästhetisierung von Macht und Gewalt sowie das weltgesch. Sendungsbewußtsein der drei polit. Rel. Zugleich geht es um ihr Verhältnis zur jüd. und christl. Überlieferung sowie zu alten rel. Institutionen wie den Kirchen. Geprägt von der kulturalistischen Wende (Kulturwissenschaften) hat die neue Forschung zahlreiche bis dahin vernachlässigte rel. Elemente in Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus sichtbar werden lassen. Sie entwickelte innovative Deutungsmuster zur spezifischen Faszinationskraft dieser antiliberalen Ordnungsentwürfe unter den Bedingungen existentieller Orientierungsunsicherheit breiter Massen in den 20er bis 40er Jahren des 20.Jh. Im Begriff »Erlösungsantisemitismus« hat Saul Friedländer selbst dem Kerngehalt der NS-»Weltanschauung« eine rel. Qualität zuerkannt. Trotz breiter empirischer Forschung wird die analytische Leistungskraft der Modelle polit. Rel. aber kontrovers diskutiert (s. Burrin). Im Streit um Konzepte …