Author(s):
Daiber, Karl-Fritz
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Huxel, Kirsten
[English Version]
I. Phänomenologisch und sozialwissenschaftlich Der Begriff S. meint relativ verbindliche, von der Tradition vorgegebene Regelformen gemeinsamen Lebens. Ein an der S. ausgerichtetes Verhalten orientiert sich an Kulturmustern, die »seit langem« gelten, oft von den Elterngenerationen bereits praktiziert worden sind. Max Weber spricht deshalb von »Eingelebtheit«. In der dt. Sprache konkurriert mit dem Begriff der S. der des Brauchs. Eine völlige Trennschärfe läßt sich nicht feststellen. Von Bräuchen wird aber in der Regel dort gesprochen, wo das Handlungsmuster primär einer symbolischen Darstellung dient oder einen lokalen bzw. regionalen Geltungsbereich hat. Die Brauchtumsforschung ist ein wichtiger Gegenstandsbereich der Ethnologie. Die hohe kulturelle Bedeutung der S. wird daran deutlich, daß sie nicht zuletzt für fundamentale Lebensvollzüge soziale Handlungsformen zur Verfügung stellen, etwa für den Umgang mit der Körperlichkeit (Geborenwerden und Sterben, Essen und Trinken, Kleidung und Haartracht, Sexualität). Die Strukturierung von Raum und Zeit ist in den verschiedenen Kulturen durch die S. festgelegt. S. in diesem Sinne verstanden sind deshalb Elemente der kulturellen Welterrichtung. Auf dieser Ebene zeigen sie eine hohe Stabilität. Entstehende Neuerungen sind oft nur Variationen der Grundmuster. Daß die Gesch. der S. einen Prozeß der fortschreitenden Affekt- und Körperkontrolle darstellt, kann zumindest für einzelne Kulturgestalten angenommen werden. In der chinesischen Kultur wurde schon durch Konfuzius die Bildung einer harmonischen Ordnung durch die S., damit auch durch die rituelle Ästhetisierung der Lebenswelt angestrebt. Die Orientierung des Handelns an der S. reduziert die Notwendigkeit, individuelle Entscheidungen zu treffen. So entsteht soziale Sicherheit. Dies stellt zugleich eine in der S. angelegte Gefährdung dar: Sie kann zur leeren S. werden, zur Traditionsorientierung, die veränderte Lebensumstände außer acht läßt. Unter den Bedingungen einer wachsenden Individualisierung ist die Bedeutung der S. in modernen Gesellschaften zurückgetreten. Dies besagt: Viele Lebensbereiche, die in vormodernen Gesellschaften durch S. geregelt werden, verlangen in modernen Gesellschaften die Entscheidung der einzelnen. Allerdings geschieht dies immer nur in den kulturell vorgegebenen Variationsbreiten. Diese Begrenzung gilt selbst für die Mode, die explizit am Neuen orientiert ist, nicht am Hergebrachten. Gerade am Beispiel der Mode zeigt sich das moderne Individualisierungsbedürfnis, das in der Regel selten voll ausgelebt werden kann. S. variieren je nach Kulturgestalt, insbes. entlang der räumlichen Ordnungen der Gesellschaften, sie differenzieren sich national, regional oder lokal. Zum Teil drücken sich in den unterschiedlichen S. soziale Identitäten aus. Dies gilt auch für die verschiedenen Schichten oder Klassen der Gesellschaft. Ein unterschiedlicher Umgang mit überkommenen S. läßt sich nicht zuletzt in den versc…