Author(s):
Herms, Eilert
[English Version] . »S.« – nach antiken und ma. Vorläufern fixiert durch J. Bodin – ist nicht der Begriff eines Rechtstitels, sondern einer sozialen Wirklichkeit, nämlich derjenigen sozialen Wirkmacht, welche in dem von ihr beherrschten Gebiet ausreicht, einem Gemeinwesen Frieden nach außen und nach innen zu wahren. Ihr Begriff schließt erstens ihre eigentümliche Wirkweise ein: Das Anerkanntsein ihres Inhabers als Träger derjenigen Zwangsgewalt (vis), die erforderlich ist, um nach innen den von ihr erlassenen Gesetzen ausreichende Nachachtung zu verschaffen, über die Inhaber der Ämter zu entscheiden und ihnen Autorität zu verleihen sowie von ihren Untertanen die für die Erhaltung ihrer Funktionstüchtigkeit erforderlichen materiellen Mittel (Steuern) zu erlangen, und um sich nach außen durch Entscheidung über Krieg und Frieden mit den Nachbarn in ihrer Herrschaft zu erhalten. In ihren Begriff gehört zweitens die Bedingung der Erhaltung dieser Wirkweise: daß diese nämlich nicht willkürlich, sondern so ausgeübt wird, wie ihre Erhaltung es verlangt. In den Begriff gehört jedoch nicht eine bestimmte Form des Zustandekommens dieser Wirkmacht; wenn sie da ist, wirkt sie, und es ist sachgemäß, sich ihrem Wirken zu fügen (vgl. I. Kants Adaption von Röm 13 [Metaphysik der Sitten, 1797, in: Kants GS, Akademie-Ausg., Bd.6, 203–493, bes. 371]). – Die ponderablen Wendungen des Verständnisses von S. – in der Philos., Jurisprudenz und Theol. – folgen den realen Wandlungen ihrer gesch. Gestalt: Vom 16. bis 18.Jh. präsentiert sie sich in der Gestalt fürstlicher S. und wird sie in dieser Gestalt beschrieben (Bodin, Charles Loyseau [1564–1627], Cardin Le Bret [1558–1665], Th. Hobbes). Seit der Engl., Amer. und Franz. Revolution tritt sie auf und wird sie beschrieben in unterschiedlichen Gestalten der Volkssouveränität (J. Locke, J.-J. Rousseau, Th. Jefferson) oder, bes. in Frankreich, der S. der Nation (Art.3 der Erklärung Bürger- und Menschenrechte von 1789). Beide Gestalten der S. können auch miteinander verbunden gesehen werden: Bei Hobbes resultiert die Fürstensouveränität aus der vertraglichen Preisgabe der Volkssouveränität, in den Augen G.W. F. Hegels manifestiert sich die Volkssouveränität in der S. des Fürsten. Jedenfalls eignet sie in all diesen Gestalten, wie schon bei Bodin, der Republik, dem Staat. Im nachrevolutionären Verfassungsstaat wird sie von diesem nach Grundsätzen der Verfassung ausgeübt. Daran kann sich der Eindruck entzünden, S. sei eine Eigenschaft des Rechtes selbst (H. Krabbe, Die Lehre der Rechtssouveränität, 1906; H. Kelsen, Das Problem der S. und die Theorie des Völkerrechts, 1920; J. Habermas, Faktizität und Geltung, 1992). Diese Sicht verkennt – was Kant noch wußte –, daß das Recht, auch des Verfassungsstaats, sich dem Dasein und Wirken des Souveräns verdankt. Unterhalb des Konsenses, daß es der Staat ist, dem S. eignet und der sie ausübt, bleibt im Blick auf die modernen funktional ausdifferenzierten und offenen Gesellschaften die Frage strittig, von wem hier wie die S. des Staates erworben, besessen und ausgeübt wird. Zwar kann von einer Auflösung des Staates in das Kräftespiel der miteinander um Einfluß ringenden Interessengruppen, Verbände, Organisationen (so H. J. Laski, The Foundations of Sovereignity, 1921; L. Duguit, Souveraineté et liberté, 1921) nicht die Rede sein, aber die Frage nach dem wahren Träger seiner Wirkmacht bleibt auch dann offen, wenn die Ausübung staatl. S. formal in dem von der Verfassung verlangten Instanzenzug und Verfahren verläuft. Verfassungssätze wie GG Art.20 Abs.2: »Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus« beantworten diese quaestio facti ebenso wenig wie die These von der S. des Parlaments (K. Steifthau, Die S. des Parlaments, 1963). – Nach innen manifestiert sich die S. in der Einzigkeit und Einseitigkeit staatl. Handelns. Einzigkeit ist die Existenzbedingung der Wirkmacht von S.; sie schließt eine S. der Untergliederungen eines Bundesstaates aus. Einseitigkeit besagt, daß die Wirksamkeit staatl. Handlungen nicht von der Zustimmung der Untertanen abhängig ist; auch dann nicht, wenn die Rechtmäßigkeit seines Handelns durch die Verwaltungsgerichtsbarkeit überprüft werden kann. Einseitigkeit ist ein Implikat der Einzigkeit und besagt, daß der Staat – wie immer er organisiert sein und arbeiten mag – seine S. nicht mit anderen innergesellschaftlichen Instanzen teilt, auch dann nicht, wenn er ihnen Spielräume der rechtlichen Selbstgestaltung einräumt und u.U. Verträge mit ihnen abschließt (etwa: Verträge mit Kirchen und Religionsgemeinschaften [Kirche und Staat]). Nach außen manifestiert sich die S. als Gleichheit ihrer Träger, der Staaten, im Genuß des Respekts vor seinen eigenen inneren Angelegenheiten, in der Fähigkeit zu Bündnissen und Verträgen sowie in der Entscheidungshoheit über Krieg und Frieden. Allerdings ist diese Unabhängigkeit jedes Souveräns gegenüber jedem anderen nur eine relative innerhalb der Koordinationsmechanismen (Koordinationslehre) des Völkerrechts, innerhalb der realen Machtverhältnisse zw. den Souveränen, innerhalb von staatenübergreifenden Risikolagen (z.B. ökologischer Art) und Sicherheitsproblemen (z.B. Massenvernichtungsmittel, Terrorismus), durch die die Souveräne de facto aneinander gebunden sind. Einen Sonderfall stellen Vertragsgemeinschaften wie exemplarisch die EU dar, in denen die Partner bestimmte Teile ihrer S. an die Gemeinschaft abtreten (GG Art.24). Diese Situation ruht zwar auf der S. der Partner und setzt sie voraus, schränkt sie jedoch …